Fachtag Prozessbegleitung bei der Entwicklung sexualpdagogischer Konzepte in Einrichtungen der Behindertenhilfe

Fachtag: Prozessbegleitung bei der Entwicklung sexualpädagogischer Konzepte in Einrichtungen der Behindertenhilfe

25. Mär 2024

„Prozessbegleitung bei der Entwicklung sexualpädagogischer Konzepte in Einrichtungen der Behindertenhilfe (ProSeKo)“. Unter diesem Namen hat der inklusive Fachtag am Donnerstag, den 01.Februrar 2024 hat in Stuttgart stattgefunden. Ausgerichtet wurde der Fachtag im Rahmen des gleichnamigen Landesprojektes in Kooperation von der Lebenshilfe Baden-Württemberg und pro familia Baden-Württemberg. 

Getroffen haben sich 100 Selbstvertreter*innen, Fachkräfte und Angehörige, um sich über den Nutzen von sexualpädagogischen Konzepten, deren Entwicklung und nachhaltige Verankerung im Einrichtungsalltag zu informieren. Partizipative Prozesse sowie Kriterien gelingender Partizipation aller, hatte einen besonderen Fokus in der Veranstaltung. 

Das Programm war vielfältig gestaltet. Neben einem Vortrag und der Podiumsdiskussion, öffneten verschiedene Workshops Erfahrungsräume und haben zum angeregten fachlichen Austausch eingeladen.

Die Rückmeldung der Teilnehmenden zum ProSeKo- Fachtag war übereinstimmend positiv und es wurde mehr als deutlich, dass in Einrichtungen der Behindertenhilfe das Thema Sexualität einen festen Platz im Diskurs beansprucht.

Wir freuen uns, dass auch in den Medien das Thema aufgegriffen wurde, den Beitrag auf tagesschau.de finden Sie hier.

Begrüßung: Ruth Weckenmann, Vorstandsvorsitzende pro familia BW und Peter Benzenhöfer, Vorstandsvorsitzender des Landesverbands der  Lebenshilfe BW

Ruth Weckenmann und Peter Benzenhöfer halten eine Rede auf dem Fachtag

Die Teilnehmenden werden durch Ruth Weckenmann und Peter Benzenhöfer begrüßt.

Dass sexuelle und reproduktive Rechte, die Grundlage der Arbeit von pro familia sind, war Ruth Weckenmann bei ihrer Begrüßung wichtig zu betonen. Diese Rechte spiegeln sich in allen Bereichen der Menschenrechte wider und sind somit unabhängig von Alter, Geschlecht, Religion, Hautfarbe oder eben auch einer Behinderung.

Individuelle, auf die einzelnen Einrichtungen zugeschnittene Konzepte, die von allen mitgetragen werden können, seien eine wichtige Voraussetzung dafür, dass die Konzepte im Alltag gelebt und nicht zu Papiertigern würden. Diese Konzepte sind seit April 2022, im Rahmen des Landesprojektes „Prozessbegleitung bei der Entwicklung sexualpädagogischer Konzepte in Einrichtungen der Behindertenhilfe (ProSeKo)“ gestaltet worden. In ganz verschiedenen Einrichtungen fanden viele Treffen statt, bei denen Menschen mit Behinderungen, Angehörige und Fachkräfte überlegt haben, was für sie im Zusammenhang mit Sexualität wichtig ist, auf welche gemeinsamen Regeln sie sich einigen wollen, sowie welche Angebote und Fortbildungen regelmäßig stattfinden sollen. 

Sexualpädagogische Konzepte helfen, den Umgang mit Sexualität zu regeln – indem sie Handlungs- und Gesprächsräume öffnen und können dadurch präventiv wirkten. Somit sei klar:

 „Sexualpädagogische Konzepte und Schutzkonzepte gehen Hand in Hand.“

„Wir sind doch alle schwer mehrfach normal. Das Wort Inklusion braucht man nur, damit die Politik es nicht vergisst.“ 

betonte Peter Benzenhöfer der Vorstandsvorsitzende des Landesverbands der Lebenshilfe Baden- Württemberg in seiner Begrüßung.  Inklusion sei ein Erfolgsmodell, sofern alle sich uneingeschränkt auf Augenhöhe begegneten. Daher ist im Zusammenhang mit Teilhabe und Inklusion wichtig, dass auch das Thema Sexualität gesellschaftlich und vor allem in den Einrichtungen weiter in den Fokus rückt. Denn: Sexualität brauche ganz selbstverständlich ihren Raum. Sie sei ein wichtiger Aspekt des Lebens, der Wunsch nach Zärtlichkeit und Partnerschaft ist unabhängig von einer Behinderung.  

Peter Benzenhöfer sprach sich dafür aus in Kommunikation zu gehen und zu seinen Wünschen nach Partnerschaft und Sexualität zu stehen. Er unterstrich zudem Konsens als Basis für erfüllende Sexualität: 

„Wer sich traut – natürlich im gegenseitigen Einvernehmen – der ist glücklich.“

Grußwort: Ministerialrätin Kirsten Schmidts, Ministerium für Soziales, Gesundheit und Integration

Ministerialrätin Kirsten Schmidts, Ministerium für Soziales, Gesundheit und Integration spricht auf dem Fachtag

Der UN Behindertenrechtskonvention (UN-BRK), insbesondere den Artikeln 16 (Freiheit vor Ausbeutung, Gewalt und Missbrauch), Artikel 22 (Achtung der Privatsphäre) und dem Artikel 23 (Achtung der Wohnung und Familie), schrieb die Ministerialrätin Kirsten Schmidts, Leiterin des Referats Menschen mit Behinderungen im Ministerium für Soziales, Gesundheit und Integration Baden-Württemberg, in ihrem Grußwort besondere Bedeutung zu. Denn diese Artikel drücken beispielhaft ein umfassendes Verständnis von sexueller Selbstbestimmung aus. Die UN-BRK „mit Leben zu füllen“ und Maßnahmen zu ergreifen, sei eine wichtige Aufgabe des Landes, diesbezüglich sehe sie aber auch in Baden-Württemberg noch „Luft nach oben“. Überkommene Moralvorstellungen müssten weiter abgebaut werden, aber gleichzeitig bedarf es die Bedenken von Angehörigen ernst zu nehmen. Menschen mit Behinderung zu empowern und das auch in Bezug auf ihre Sexualität, müsste stets das Ziel von geeigneten Maßnahmen sein.

Vortrag „Sexualpädagogische Konzepte: Selbstbestimmung partizipativ und vielfältig gestalten“: Prof. Dr. Robin Bauer

In seinem Fachvortrag „Sexualpädagogische Konzepte: Selbstbestimmung partizipativ und vielfältig gestalten“ machte Prof. Dr. Robin Bauer von der DHBW Baden-Württemberg deutlich, dass neben Partizipation eine Sexualpädagogik der Vielfalt, die der Vielfältigkeit der Menschen Rechnung trägt, eine wichtige Grundlage sexueller Selbstbestimmung darstellt.

Zum Standard in Einrichtungen der Behindertenhilfe gehört ein (Gewalt-) Schutzkonzept, als Baustein einer „Gefahrenabwehrpädagogik“. Diesem Konzept stellt Prof. Dr. Bauer das „Lustkonzept“ zur Seite, denn gewisse Risiken müssten eingegangen werden, um ein menschenwürdiges Leben zu führen. 

 „Scham ist kein guter Begleiter in Bezug auf Schutz vor sexualisierter Gewalt.“

Prof. Dr. Bauer unterstreicht, dass die Offenheit für eigene Erfahrungen und Experimente, sowie Eigensinn als Richtschnur einer lustbetonten Sexualpädagogik der Vielfalt einen größeren präventiven Nutzen haben, als rein restriktive Schutzkonzepte.

Podiumsdiskussion: Sexuelle Selbstbestimmung leben und fördern – Wie gelingt das?

Mehrere Personen bei einem Podiumsgespräch

Im Gespräch: Thomas Henrichsen (Tennentaler Gemeinschaften), Marion Grimm (Sexualpädagogischer Fachdienst, Paulinenpflege Winnenden), Christian Sulzberger (bhz Stuttgart), Katrin Steinbrenner (Leitung Wohnheim der Lebenshilfe Sinsheim), 
Moderation: Prof. Dr. Simone Danz

Moderatorin Simone Danz eröffnete die Diskussion mit der Frage, warum Konzepte der Sexualpädagogik in Einrichtungen der Behindertenhilfe so wichtig seien. Die Antwort von Christian Sulzberger, der in einer der Arbeitsgruppen im Rahmen des Projektes ProSeKo an der Entwicklung des eines sexualpädagogischen Konzeptes für das bhz beteiligt war, bringt es auf den Punkt: „Damit man besser miteinander leben kann“.

Auch die Vermeidung von Schubladendenken wurde als wichtiger Aspekt in der weiteren Diskussion genannt. Katrin Steinbrenner sagte, das Thema brauche auch mehr Raum als in Tür-und-Angel-Gesprächen möglich sei, da das Reden über Sexualität ein gewichtiger Schritt in Richtung Selbstbestimmung sei. Eine Herausforderung stellte die unterschiedliche Prägung der Einzelnen in ihrer Einrichtung dar. Daher war und ist eine wertfreie Kommunikation und eine offene Diskussionskultur, auch in tiefergehenden Themenbereichen, der Schlüssel zum Erfolg.  

Die Arbeit an einem sexualpädagogischen Konzept bringt jeden Einzelnen dazu, sich mit den eigenen Werten und Normen zu befassen und das Thema auch für sich selbst zu reflektieren. Der positive Blick auf Sexualität sei, nach 20 Jahren Fokus auf Schutzkonzepte „überfällig“ gewesen, betont Marion Grimm.

Katrin Steinbrenner ergänzte, dass die Arbeit am Konzept eine ganz neue Kultur in der Einrichtung etabliert habe. Das Thema hat einen festen Platz in jeder Teamsitzung und sei zum Standard in der Einrichtung geworden. Feste Ansprechpersonen  für das sexualpädagogische Konzept und dessen Maßnahmen der Umsetzung, seien zudem auch entlastend für jene Kolleg*innen, die sich nicht berufen fühlten, Fragen zum Thema zu beantworten. Jedoch sind für männliche Klienten,  Ansprechpartner deutlich schwieriger zu finden, da es zu wenige männliche  Fachkräfte gebe.

Bei den Treffen der Arbeitsgruppen, so Christian Sulzberger, seien alle Wünsche der Gruppe in das sexualpädagogische Konzept eingeflossen. Marion Grimm betont, dass ein solch partizipativer Prozess mit Aufwand verbunden ist. Dieser Aufwand habe sich aber gelohnt. Alle Klient*innen fühlten sich gestärkt und durch die Mitwirkung im Projekt gut über ihre reproduktiven und sexuellen Rechte aufgeklärt.

Damit alle Einrichtungen der Behindertenhilfe handlungssicher seien, sollten eigentlich alle Einrichtungen über sexualpädagogische Konzepte verfügen, betonten einheitlich Christian Sulzberger und Thomas Henrichsen. 

"Weil Missbrauch großes Leid bringt" hob Thomas Henrichsen im Rückblick  auf reale Vorfälle in der Vergangenheit, besonders den präventiven Aspekt sexualpädaogigischer Konzeptionen hervor.

Katrin Steinbrenner spricht für Einrichtungen, die sich auf den Weg begeben, ein sexualpädagogisches Konzept zu entwickeln, die Empfehlung aus, bestehende Gremien zu nutzen, um das Thema aufzunehmen und sich nach Möglichkeit einen verbindlichen zeitlichen Rahmen zu setzen. Aber auch die kleinen Schritte seien wertvoll und bestärkt alle Einrichtungen sich mit dem Thema Sexualität auseinanderzusetzen „der Weg ist das Ziel“.

Die Teilnehmenden des Fachtags hatten am Ende des Podiumsgesprächs die Möglichkeit sich zu beteiligen. Es kam der Wunsch nach einer besseren Infrastruktur an Beratungsangeboten, vor allem auch im ländlichen Raum, auf. Zudem besteht das Bedürfnis einer besseren finanziellen Förderung für Projekte und Angebote, die die sexuelle Selbstbestimmung stärken. 

Arbeitsgruppen

Die Teilnehmenden hatten nach der Mittagspause die Möglichkeit, jeweils zwei Workshops der nachfolgend aufgeführten Arbeitsgruppen zu besuchen, um tiefer in die Auseinandersetzung und den Austausch zu kommen.

  • Beteiligung ermöglichen / Wie gelingt Beteiligung für alle? (Francesca Keyerleber, pro familia)
  • Sexpositive Haltung in Einrichtungen leben (Katharina Böhmer-Kastens, pro familia)
  • Methodenwerkstatt / Materialien (Anne Zangl, Frank Bufler, Daniel Deggelmann, pro familia)

Die Gruppe im Workshop „Beteiligung ermöglichen / Wie gelingt Beteiligung für alle?“ näherte sich in einer Sammlung zunächst dem Begriff der Partizipation an.

im weiteren Verlauf wurde die Frage geklärt, welche Voraussetzungen, auf individueller aber auch auf institutioneller Ebene gegeben sein müssen, um  gelingende partizipative Prozesse  gestalten zu können. Ferner wurden verschiedene Stufen von Partizipation herausgearbeitet und durch praktische Beispiele erläutert.

Der Begriff "sexpositiv" wurde in der Arbeitsgruppe "Sexpositive Haltung in Einrichtungen leben" zunächst inhaltlich gefüllt und durch vier Kriterien beschrieben: 1. keine Bewertungen vornehmen und niemandem die eigenen Vorstellungen aufzwingen; 2. Menschen den eigenen Weg gehen lassen; 3. Konsens/  Einvernehmlichkeit; 4. verbindliche Grenzen sind wichtig (u. A. Gesetze). 

Ins Jahr 2035 und in eine sexpositiven Gesellschaft versetzten sich die Teilnehmenden in Kleingruppenarbeit und malten sich diese Vorstellung aus:  Wie sehen die Innenräume von Einrichtungen der Behindertenhilfe aus? Über welche Kompetenzen verfügen die Fachkräfte? Welche Angebote gibt es in Einrichtungen? Wie reagieren die Menschen in einem sexpositiven Umfeld aufeinander? Die so erarbeitete Utopie einer sexpositiven Einrichtung der Behindertenhilfe führte zum Fazit: "Es gibt noch viel Luft nach oben!"

Sexualpädagogische Materialien, sowie deren Einsatzmöglichkeiten zum Beispiel in Einzelsettings, Schulklassen oder Wohngruppen, konnten die Teilnehmenden im Workshop der „Methoden-Werkstatt“ in Erfahrung bringen. Die von Gabi Plan-Geiger entworfenen und hergestellten „Bauchlächeln“- Materialien wurden intensiv besprochen. Diese Materialien können sehr anschaulich und explorativ die inneren und äußeren Geschlechtsmerkmale  aufzeigen und somit sehr hilfreich sein um beispielsweise den Samenerguss oder den Eisprung zu erklären.

Ebenso wurde die sehr umfangreiche Material- Sammlung von ReWiKs, herausgegeben von der BzgA beleuchtet. Aber auch auf Materialien zur unterstützten Kommunikation eingegangen. Die Teilnehmenden konnten sich abschließend ein eigenes Bild von den vielfältigen Vorlagen und Broschüren für die sexualpädagogische Arbeit  machen. Literatur- Tipps und die Bezugsmöglichkeiten wurde durch eine umfangreiche Literatur- und Medienliste zum Thema "Sexualität und Behinderung" der Tagungsmappe beigelegt. 


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